„Wir sollen die Stadt verlassen“

Über das Schicksal der irakischen Christen am Beispiel der nordirakischen Stadt Bartella

Auf dem Hauptplatz der Nordirakischen Stadt Bartella steht ein großes Kreuz, ein unübersehbares Zeichen, dass die Stadt einmal zu großen Teilen von Christen bewohnt wurde.

In der Nähe zeigt eine massive Plakatwand schiitische muslimische Märtyrer sowie ein Foto des iranischen Ayatollah Khomeini. Plakate iranisch unterstützter schiitischer Milizionäre, die bei Kämpfen mit der Gruppe Islamischer Staat getötet wurden, hängen überall in den Straßen, zusammen mit Transparenten von schiitischen Heiligen.

Vom Islamischen Staat (IS) verfolgt und vertrieben: Schiiten und Christen aus Bartella

Vor dreißig Jahren bestand die die Bevölkerung Bartellas vollständig aus Christen. Aber im Laufe der Jahrzehnte haben demographische Veränderungen dazu geführt, dass die Bevölkerung geteilt wurde – in Christen einerseits und einer ethnischen Gruppe andererseits, die als Schabak bekannt ist und größtenteils aus Schiiten besteht. Als der IS die Stadt und weite Teile des Nordiraks im Jahr 2014 überrannte, floh die gesamte Bevölkerung Bartellas, denn beide Gemeinschaften wurden von den Extremisten verfolgt.
Zwei Jahre später, nachdem Bartella aus den Händen des IS befreit werden konnte, sind weniger als ein Drittel der christlichen Familien zurückgekommen. Die meisten haben Angst wegen der Berichte über Einschüchterung und Belästigung durch die Schabak-Bevölkerung, die von den schiitischen Milizen dominiert wird. Sie kontrollieren jetzt die Stadt.

Die Christen fürchten sich

Der katholische Priester Beham Benoka klagt, dass die christliche Gemeinschaft von der schiitischen Bevölkerung vertrieben wird. Außerdem seien ihm verschiedene Fälle von sexueller Belästigung berichtet worden. Einem kleinen Mädchen seien die goldenen Ohrringe gestohlen worden. Einmal hätten Schiiten über eine Stunde lang vor der Kirche mit ihren Gewehren in die Luft geschossen.
Iqbal Shino, die im November 2017 mit ihrer Familie nach Bartella zurückkehrte, berichtet, dass ein Schabak-Mann sie auf einem Markt von hinten gepackt habe. Der Mann sei von Umstehenden festgehalten worden. Eine Anzeige bei der Polizei nahm sie später selbst wieder zurück, um Probleme zu vermeiden. „Ich habe das Gefühl, dass er mich angegriffen hat, weil ich eine Christin bin, sagt sie. So wollen sie uns dazu bringen, Bartella zu verlassen.

Kampf um Macht und Einfluss

Die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen seinen auch eine Folge der Spaltungen und Vertreibungen durch die Terrorgruppe Islamischer Staat, sagt Renad Mansour, wissenschaftlicher Mitarbeiter der britischen Denkfabrik Chatham House: „Jetzt, wo der Islamische Staat wieder weg ist, kämpfen verschiedene bewaffnete Gruppen um Macht und Einfluss“. Allen ginge es in erster Linie darum, die größtmögliche Kontrolle in der Region zu bekommen, und das schaffe natürlich ein schwieriges Sicherheitsumfeld, sagt er.

Alles Einzelfälle?

Bei der Belästigung von Christen handele es sich lediglich um Einzelfälle, sagt Qusay Abbas, der Schabak-Abgeordnete im Parlament in Bagdad. Dafür seien weder die Schabak-Gemeinschaft noch die Milizen verantwortlich, die Teil der von der Regierung unterstützten Bevölkerungsmobilisierungskräfte sind. „Der Sicherheitsapparat hat verschiedene Fraktionen, daher ist es unvermeidlich, dass einige Fehler passieren.“ Es gäbe Verstöße und manche würden ihre Position ausnutzen, um an Geld zu kommen. Das sei bekannt, sagt Abbas. „Das bedeutet aber nicht, dass alle schlecht sind.“ Die Schabak-bevölkerung habe genauso wie die Christen unter dem IS gelitten. Beide Gruppen hätten gemeinsam unter dem IS gelitten. Die Christen sollten keinen Gerüchten und sektiererischen Reden Glauben schenken. „Wir können diese Probleme lösen, wir müssen uns nur zusammensetzen.“

Christen verlassen das Land

Die christliche Gemeinschaft im Irak ist in den letzten 15 Jahren stark gesunken. Der Grund liegt in den Angriffen militanter islamischer Gruppierungen wie Al-Qaida und IS. Vor der US-Invasion im Jahr 2003 lebten schätzungsweise eine Million Christen im Irak. Heute ist nur noch ein Bruchteil geblieben. Die Übernahme des Nordens durch den Islamischen Staat hat die Katastrophe für die Christen noch verschärft. Viele flohen in die Autonome Region Kurdistan und sind noch immer dort.
Die demografischen Veränderungen in Bartella begannen vor etwa 30 Jahren. Damals verstaatliche der irakische Diktator Saddam Hussein landwirtschaftliche Flächen, die zuvor Christen gehört hatten. Diese Flächen wurden an Familien von Soldaten verschenkt, die im Irak-Iran-Krieg gefallen waren. Ein Großteil der Schabak-Bevölkerung ist inzwischen zurückgekehrt und hat wieder Leben in die Nachbarschaft gebracht. Im Gegensatz dazu sind die christlichen Bezirke größtenteils verwüstet. Viele der Häuser wurden in den Kämpfen zerstört und nur noch wenige Menschen leben dort.

Christen flüchten in die sichereren kurdischen Autonomiegebiete

Die Sicherheit wird jetzt von Milizen, sogenannten Volksstreitkräften garantiert. In Bartella rekrutieren sich die Kämpfer hauptsächlich aus Teilen der Schabak-Bevölkerung. Sie haben Checkspoints in den Straßen errichtet und agieren als Polizei.
Einer der größten Streitpunkte in Bartella ist die Vertreibung der sogenannten Nineveh Plain Protection Units (NPU) einer halbautonomen Polizei, die hauptsächlich aus Christen besteht. Bis zur Übernahme der Stadt durch den IS hatte diese Einheit die Stadt bewacht. Ihre Kämpfer sind in kurdische Gebiete geflüchtet und dort größtenteils dort geblieben. Das ist einer der Gründe, warum viele christliche Familien sich davor hüten, nach Bartella zurückzukehren.

“Daesh, der IS, ist weg, aber die Denkweise ist noch hier!”

„Die Christen sind der schwächste Teil der irakischen Gesellschaft“, sagt Ammar Shamoun Moussa, Kopf der NPU. Wenn es Stabilität gäbe und Recht und Gesetz herrsche, würden wahrscheinlich auch viele Christen zurückkehren. Jalal Bourtos, Mitglied des Stadtrats von Bartella, sagt, dass die NPU Teil der eigenen Identität ist. „Die NPU bestätigt und schützt unsere Anwesenheit hier.“ Es bereitet ihm Sorgen, dass einige schiitische Milizen ebenso extremistisch sind wie der IS, der in der Region unter seiner arabischen Bezeichung Daesh berüchtigt ist. „Obwohl die Waffen von Daesh weg sind, ist ihre Denkweise noch hier“, sagt er.

Das Vertrauen ist erschüttert

Das Vertrauen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ist erschüttert. Salim Harihosan, ein Christ, ist im Jahr 2017 nach Bartella zurückgekehrt. Wie auch andere Familien hat er sein Haus zerstört vorgefunden. Mit Hilfe einer Nichtregierungsorganisation (NGO) hat er es wiederaufgebaut. Aber er bedauert seine Entscheidung, zurückzukehren. Er werde von Ängsten vor Gesetzlosigkeit, weiteren Spaltungen und potenzieller Gewalt verfolgt, sagt er. Fünfmal in der Nacht wache er auf, um sich zu vergewissern, dass sein Auto sicher ist. Er will sich ein Apartment in der Stadt Erbil im kurdischen Autonomiegebiet mieten, nur für den Fall, dass etwas passiert. Es sein eine psychologisch belastende Situation: „Ich gehe auf den Markt und höre von Dingen, dass vielleicht dieses oder jenes geschieht. So etwas belastet die Menschen, die hier leben.“
In der Kirche in Erbil singen und beten Hunderte von Christen ihre Hymnen, viele von ihnen stammen aus Bartella. Eine von ihnen, die 72jährige Habiba Kiyagos, lebte immer in Bartella, dennoch glaubt sie nicht, dass sie noch einmal dorthin zurückkehren werde. Ihr Haus ist zerstört, ihr Besitz verloren, und sie hat Angst, zum Opfer von Extremisten zu werden, seien es sunnitische Gruppen wie der IS oder Schiiten. „Ich würde gern wieder in Bartella schlafen“, sagt sie. „Aber ich fürchte mich davor, dass sie kommen und uns angreifen.“

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