Mensch, geh’ nur in dich selbst,
denn nach dem Stein der Weisen
darf man nicht zuallererst
in fremde Länder reisen.
Angelus Silesius (1624 – 1677)
Das Besondere und das Normale
Urlaubszeit! Nein, ich verreise nicht, ich ziehe um. Aber das ist eine andere Geschichte. Da Urlaubszeit oft auch Reisezeit ist, könnte ich doch wenigstens mal was übers Reisen bloggen, habe ich gedacht. Deshalb gibts jetzt hier einen Text, denn ich vor zwei Jahren auf Teneriffa geschrieben habe.
Immer wenn ich in so einem Touristenflieger hocke, dicht an dicht mit anderen 100 bis 200 Leuten, dann frage ich mich: Warum tust du dir das eigentlich an? Warum quetscht du dich in so eine Sardinenbüchse, in der du mehrere Stunden lang in unbequemer Sitzhaltung verharren musst, ausgeliefert auf Wohl und Wehe an zwei unbekannte Typen in einem Cockpit und an eine letztlich immer wieder fehleranfällige Technik, nur, um dich an einen anderen Ort bringen zu lassen, von dem du dir irgendetwas Besonderes erhoffst? Ja – was eigentlich?
Besseres Wetter? Abstand von den Verpflichtungen und den Mühen der Arbeit und des Alltags? Abstand vom normalen Leben? Ja: Abstand vom Normalen. Wir Urlaubsreisende suchen das Unnormale, also das Besondere. Besondere Landschaften, besonderes Klima, besonderes Essen, besondere Leute, eine besondere Landschaft, besondere Architektur. Die Crux dabei: Oft tut uns das besondere Klima gar nicht gut, sondern belastet unseren Kreislauf und unsere Widerstandsfähigkeit. Magen-Darm Turbulenzen zumindest am Anfang der Reise oder auch hartnäckige Verstopfungen sind für so manchen obligatorisch. Auch das besondere Essen vertragen wir häufig nicht. Mit den besonderen Leuten können wir uns nicht austauschen, weil wir ihre Sprache nicht sprechen und uns ihre Verhaltensweisen im Grunde befremden. Die besondere Landschaft entpuppt sich manchmal als eine unwirtliche Einöde und die Details der besonderen Architektur vergessen wir wieder, kaum das wir aus der einen oder anderen Quelle etwas über sie erfahren haben.
Das Besondere kann also im Zweifelsfall ganz schön nerven und ziemlich anstrengend sein. Also wünschen sich viele von uns Urlaubsreisenden, dass das Besondere doch eigentlich so ist, wie wir es vom Normalen her gewohnt sind. Wir möchten uns auf deutsch verständigen können, die besonderen Leute sollen also gefälligst Deutsch sprechen. Wir möchten deutsches Brot und unsere geliebten kleinen deutschen Brötchen essen, deutsche Zeitungen lesen und deutsches Fernsehen gucken. Am wohlsten fühlen sich also viele von uns, wenn das Besondere nicht allzu besonders, sondern wenigstens einigermaßen normal ist.
Noch einmal: Warum also setzen wir uns dann der Tortour eines mehrstündigen Aufenthalts in diesen fliegenden Sardinenbüchsen aus. Weil wir etwas Besonderes erwarten. Weil wir unsere Träume und Hoffnungen, die mit dem Normalen oft wenig zu tun haben, in das Besondere projizieren, das wir an anderen Orten zu finden hoffen. In das Besondere, vor dem wir uns im Grunde genommen aber fürchten. Die ganze Tourismusindustrie lebt zu mindestens 80 Prozent von einer Illusion – oder sagen wir besser von jener Illusion, die sie selbst erzeugt und die schließlich die Hauptqualität des Produkts Urlaubsreise ausmacht.
Das muss jetzt nicht heißen, das die Bedürfnisse der Touristen am Reiseort völlig ins Leere laufen. Viele lieben es zum Beispiel, einmal im Jahr für zwei Wochen von hinten bis vorne bedient zu werden und so richtig den Larry raushängen lassen zu können. Stichwort: all inclusive. Zuhause immer kleine Brötchen backen, vorm Chef buckeln, gute Miene zu bösem Spiel machen, hier aber mal so richtig Macker sein oder auch mal so richtig rumprollen können. Wer nicht weiß was ich meine, der oder die steige mal in einen Flieger nach Mallorca, Ibiza oder Bankok. Bei so manchem Fernreisenden kommt der Genuss hinzu, sich dabei so richtig an seinem westlichem Überlegenheitsgefühl zu berauschen.
Natürlich sind nicht alle so, vor allem wir nicht. Wir gehören zu denen, die im Urlaub einfach mal ausspannen und gute Erfahrungen machen wollen. Wir lernen vor der Reise zumindest einige Brocken der Sprache, die an unserem Reiseziel gesprochen wird. Wir sind richtig offen für alles Neue, das uns begegnet – und gehen auf die Leute zu (nen Stück weit!). Und so weiter und so fort. Wir von dieser Kategorie wären ein Thema für sich. Und schließlich ist die Sache ja manchmal auch viel einfacher: wir möchten beispielsweise nur für ein bis zwei Wochen dem Schietwetter in Deutschland entkommen und etwas Sonne tanken. Dumm gelaufen, wenn dann, wie in meinem Fall im letzten Jahr, fast der ganze einwöchige Urlaub auf Madeira verregnet ist. Und weil der ganze Spaß nicht billig war, musste ich mir etwas ausdenken, um ihn nicht ganz misslungen zu finden. Man hat immerhin mal was anderes gesehen, ne.
Ja  – etwas anderes gesehen. Reisen bildet, heißt es ja. Früher war es wohl wirklich so. Die Reisenden haben etwas riskiert, um Neues zu entdecken, aufzuschreiben und damit das Entdeckte anderen zugänglich zu machen. Reisen erweiterte nicht nur das Wissen des Reisenden, sondern auch das gesellschaftlich verfügbare Wissen an sich, wenn auch in einer subjektiven und kulturspezifischen Draufschau. Thema: die koloniale Perspektive. Die indes ist, wie bereits angedeutet, auch heute noch nicht unbedingt Schnee von gestern.
Man kann vor sich selbst nicht weglaufen sondern nimmt sich überall hin mit, lautet ein kluger Spruch. Wie wahr. Aber immerhin: Der Abstand vom Normalen kann zumindest einen distanzierten Blick auf das eigene normale Leben mit seinen Zwängen, Gewohnheiten und Abhängigkeiten ermöglichen. Wenn man denn zu so einem kristischen Blick in der Lage ist.
Insofern verrät uns so manche Reise vielleicht mehr über unser Normales, als über das Besondere, das wir auf unserer Reise suchen.
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