Der Ukrainekrieg: Hintergründe, aktuelle Entwicklungen und weitere Aussichten
Der Ukrainekrieg geht in das vierte Jahr. In den letzten Wochen schien es so, als rücke ein Ende näher. In Politik und Medien ist in zunehmendem Maße über die Möglichkeiten und Voraussetzungen von Friedensverhandlungen nachgedacht worden. Seit dem Eklat im Oval Office indes, der vor laufenden Kameras geführten lautstarken Auseinandersetzung zwischen US-Präsident Donald Trump und seinem Vize JD Vance auf der einen und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf der anderen Seite, ist die Kriegsrhetorik zurückgekehrt.
Selenskyj sei von Trump und Vance gedemütigt worden, heißt es in der medialen Öffentlichkeit. Westeuropa und die EU müssten nun allein die militärische Unterstützung für die Ukraine sicherstellen. Im Abwehrkampf der Ukraine gegen Russland werde auch die Sicherheit ganz Europas verteidigt.
Um die Auseinandersetzungen über mögliche Friedensverhandlungen und die zukünftige Unterstützung der Ukraine besser einordnen zu können, lohnt ein Blick zurück auf die Anfänge und Ursachen des Krieges. Denn die Gründe, die Russland für seinen Angriff anführte sowie die Fehleinschätzungen, die diesen Krieg auf beiden Seiten prägten, bestimmen entscheidend die Voraussetzungen für einen möglichen Verhandlungsfrieden einerseits – oder für eine weitere Eskalation andererseits.
Am 24. März 2022 überfielen russische Streitkräfte die Ukraine und setzten sich in Richtung Kiew in Bewegung. Die NATO sei durch ihre Osterweiterung und die Absicht, die Ukraine in das Militärbündnis aufzunehmen, zu einer Bedrohung Russlands geworden, so begründete der russische Präsident Putin den Überfall. Die Ukraine werde von Neonazis regiert, die entmachtet werden müssten. Das Ziel sei es, die militärischen Fähigkeiten der Ukraine zu zerstören, die ukrainische Regierung unter Wolodymyr Selenskyi zu entmachten, die russischsprachige Bevölkerung in der Ostukraine, insbesondere in den separatistischen Regionen um Donezk und Luhansk vor den Angriffen der ukrainischen Streitkräfte zu schützen und die Regierung in Kiew durch ein russlandfreundliches Regime abzulösen. Scheinbar rechnete Putin damit, durch einen kurzen Krieg, den er als „spezielle Militäraktion“ bezeichnet hat, seine Ziele erreichen zu können. Hier sollte er sich indes schwer getäuscht haben. Der Angriff auf Kiew wurde zurückgeschlagen, die russischen Streitkräfte konzentrierten sich schließlich auf verlustreiche Geländegewinne in der Ostukraine.
Vor diesem Hintergrund kam es bereits etwa einen Monat nach Kriegsbeginn zu vielversprechenden Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Selenskyj ließ durchblicken, dass er sich gegebenenfalls einen neutralen Status der Ukraine vorstellen könne und zu einem Kompromiss mit Russland bereit sei. In dieser Situation besuchte der damalige britische Premier Boris Johnson die ukrainische Hauptstadt und verdeutlichte den Ukrainern, dass die westliche Staatengemeinschaft kein Interesse an einem Kompromissfrieden habe. Die ukrainische Seite hat daraufhin, unter anderem mit dem Versprechen auf materielle und militärtechnische Unterstützung durch den Westen, die Verhandlungen über einen möglichen Friedensschluss beendet. Das Sterben an der Frontlinie und in den von russischen Raketen und Drohnen angegriffenen Städten geht seither weiter. Die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren, respektive müsse ihn gewinnen, heißt es seither (fast) unisono in den Verlautbarungen und Statements westlicher Politik und Medien. Der russische Präsident Putin sei ein gefährlicher Autokrat mit weitreichenden expansionistischen Absichten, und wenn man ihn jetzt nicht in der Ukraine stoppe, werde er seine Eroberungskriege zukünftig auf weitere Länder Europas, insbesondere auf die einstigen Warschauer Pakt-Staaten und die Länder der ehemaligen Sowjetunion wie Estland, Lettland und Litauen, ausdehnen. Die westliche Unterstützung für die Ukraine und bis vor kurzem insbesondere jene der USA zielte daher nicht zuletzt darauf ab, Russland militärisch zu schwächen und seine Fähigkeit zur Kriegsführung zu minimieren. Der Ukrainekrieg wurde zu einem Instrument, Russland als Machtfaktor sowohl regional- als auch weltpolitisch weitgehend auszuschalten oder doch einzudämmen und hinsichtlich Soldaten und militärischem Material bis zur Erschöpfung auszubluten (vgl. Abelow 202s, S. 4). Auch diese Strategie ist allerdings nicht aufgegangen. Russland verfügt über etwa 1,5 Millionen Soldaten und noch einmal über rund zwei Millionen Reservisten. Dazu kommen 1500 Kampfflugzeuge, 7600 Artilleriegeschütze und eine der größten Panzerstreitmächte der Welt. Ihren Angriff auf die Ukraine startete die russische Armee am 24. Februar 2022 mit 120.000 Soldaten, einem Bruchteil der ihr zur Verfügung stehenden Mannschaftsstärke. „Im Gegensatz zu dem, was überall zu hören war, hat sich die russische Armee für einen langsamen Krieg entschieden, um mit Menschenleben zu haushalten“, schreibt der Historiker und Philosoph Emmanual Todd: „Die bedeutende Rolle, die die tschetschenischen Regimenter und die Wagner-Miliz während der ersten Etappen des Konflikts spielten, rühren von dieser Entscheidung wie auch die schrittweise, sparsame und partielle Mobilisierung. Die Priorität liegt für Russland nicht darin, so viele Gebiete wie möglich an sich zu reißen, sondern so wenig Menschen wie möglich zu verlieren“ (Todd 2024, S. 61).
Mit der seitens Russland vorgetragenen Bekundung, man fühle sich durch die NATO-Ostereiterung und die Aufnahme der Ukraine in das Militärbündnis bedroht, haben sich die Verantwortlichen im Westen kaum ernsthaft (öffentlich) auseinandergesetzt. Dabei handele es sich um russische Propaganda, um die russischen imperialistischen Absichten zu bemänteln, so der Tenor. Die NATO sei schließlich ein reines Verteidigungsbündnis, von der niemand etwas zu befürchten habe.
Ist also der russische Überfall auf die Ukraine Ausdruck reinen imperialen Machtstrebens, wie im Westen behauptet wird? Oder ist er Reaktion auf die Ausdehnung des westlichen Militärbündnisses und den damit verbundenen westlichen Machtansprüchen, wie die russische Seite zur Rechtfertigung ihres Angriffskrieges vorträgt? Bei der Diskussion über die Gründe für den Ukrainekrieg und der kritischen Würdigung der westlichen Argumentationsmuster kann und darf es nicht um eine Rechtfertigung des russischen Angriffskrieges gehen. Relevant ist diese Auseinandersetzung jedoch für die Frage, ob der Konflikt und damit das Sterben in absehbarer Zeit durch Verhandlungen und Kompromisslösungen beendet werden kann. Sind allein Putins Machtstrebungen und die russischen Expensionsabsichten verantwortlich für diesen Krieg? Dann wäre die westliche Erzählung plausibel, Putin könne nur durch militärische Mittel in seinen Bestrebungen gestoppt werden und die russische Argumentation sei reine Propaganda. Zweifel an dieser Sichtweise müssen allerdings erlaubt sein. Allein die Betrachtung der bewaffneten NATO-Interventionen der letzten Jahrzehnte in Jugoslawien, Irak, Somalia, Afghanistan, Libyen und anderswo rechtfertigen Skepsis hinsichtlich der rein defensiven Strategie der NATO und damit gleichsam hinsichtlich der Behauptung, russische Bedrohungsängste seien völlig aus der Luft gegriffen.
Seit der sogenannten Kuba-Krise im Jahr 1965 wissen alle ausländischen Mächte, dass sie ein Risiko eingehen, wenn sie ohne Erlaubnis ihre Streitkräfte in der Nähe der Vereinigten Staaten von Amerika in Stellung bringen. Ein besonders prägendes Beispiel war die Kubakrise, als die Sowjetunion Mittelstreckenraketen auf der Karibikinsel stationierte und damit beinahe den Dritten Weltkrieg auslöste. Die Wahrung der eigenen Sicherheitsinteressen ist mithin ein zentraler Bestandteil der US-Außenpolitik. Würde eine konkurrierende Macht wie etwa China oder Russland beginnen, militärische Infrastruktur nahe des US-Territoriums zu stationieren, so gäbe es mit größter Wahrscheinlichkeit massive Reaktionen seitens der USA, die von Protesten und Sanktionen bis hin zu militärischen Maßnahmen reichen würden und im Extremfall zu einer direkten militärischen Konfrontation reichen könnten.
An die Prämissen hinsichtlich der eigenen Sicherheitsinteressen haben sich die USA und mit ihr die westlichen Verbündeten indes bezogen aus Russland nicht gehalten. Russland hat die sicherheitspolitischen Entwicklungen in Europa und die militärischen Aktivitäten der USA und der NATO in den Jahren vor dem Ukraine-Krieg zunehmend als Bedrohung empfunden. Eine Reihe von Entscheidungen und Maßnahmen des Westens trugen dazu bei, dass Moskau sich herausgefordert und eingekreist fühlte. Ein entscheidender Schritt war der einseitige Austritt der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen im Jahr 2001 unter Präsident George W. Bush. Dieser Vertrag hatte dazu gedient, ein strategisches Gleichgewicht zwischen den USA und Russland zu wahren, indem er beide Seiten daran hinderte, umfassende Raketenabwehrsysteme zu errichten, die die nukleare Abschreckung des jeweils anderen untergraben könnten. Im Jahr 2016 stationierten die USA ein Raketenabwehrsystem in Rumänien, das über Abschussrampen vom Typ Mark 41 Aegis verfügt. Diese sind nicht nur für die Verteidigung geeignet, sondern können auch mit nuklear bestückten Angriffswaffen wie Tomahawk-Marschflugkörpern mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern bestückt werden (Abelow, S. 22). Moskaus ließe sich damit problemlos erreichen. Kein Wunder, dass dies von Russland als potenzielle Bedrohung seiner nuklearen Zweitschlagfähigkeit gewertet wurde. Ein weiterer schwerwiegender Einschnitt war der Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty) im Jahr 2019. Dieser Vertrag hatte seit dem Kalten Krieg die Stationierung landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa verboten. Sein Ende öffnete die Tür für eine erneute Aufrüstung in diesem Bereich. Im Jahr 2016 stationierten die USA ein Raketenabwehrsystem in Rumänien, das über Abschussrampen vom Typ Mark 41 Aegis verfügt. Diese sind nicht nur für die Verteidigung geeignet, sondern können auch mit nuklear bestückten Angriffswaffen wie Tomahawk-Marschflugkörpern mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern bestückt werden (Abelow, S. 22). Diese Stationierung wurde von Russland als potenzielle Bedrohung seiner nuklearen Zweitschlagfähigkeit gewertet. Hinzu kamen die zunehmenden Militärmanöver der NATO nahe der russischen Grenze. Der russische Botschafter in den USA,Anatoli Antonow, schrieb im Dezember 2021 in der Zeitschrift Foreign Policy, dass die NATO jährlich bis zu 40 großangelegte Übungen in der Nähe Russlands durchführe, darunter Manöver mit scharfen Raketen, die Angriffe auf russische Ziele simulierten (vgl. Abelow 2022, S. 26f). Der Historiker Benjamin Abelow beschreibt in seiner Untersuchung über die Rolle der USA und der NATO im Ukraine-Konflikt ein Muster zunehmender Provokationen: Zwischen 2017 und 2021 verstärkten sich militärische Aktivitäten des Westens entlang der russischen Grenze erheblich. Die Ukraine erhielt nicht nur umfangreiche Waffenlieferungen, sondern es fanden auch gemeinsame Militärübungen mit NATO-Staaten statt. Parallel dazu wurden in Rumänien offensivfähige Raketenabschussrampen in Betrieb genommen, Polen sollte bald folgen. Gleichzeitig führte die NATO selbst Übungen durch, die Angriffe auf russisches Territorium simulierten. Besonders brisant war, dass diese Übungen von einem Land ausgingen, das entgegen früherer Zusicherungen gegenüber Moskau in die NATO aufgenommen worden war. All dies geschah in einem geopolitischen Umfeld, in dem der Westen erneut bekräftigte, dass die Ukraine NATO-Mitglied werden solle – ein Schritt, den Russland als existenzielle Bedrohung betrachtete (vgl. Abelow 2022, S. 26). Russland hat die Expansion der NATO, die Stationierung von Raketenabwehrsystemen und Angriffswaffen nahe seiner Grenzen sowie die militärische Unterstützung der Ukraine als direkte Bedrohung wahrgenommen. Die Kombination dieser Faktoren haben die russische Führung in ihrer Wahrnehmung bestärkt, dass man die Sicherheitsinteressen des Landes ignoriere. All das rechtfertigt keinen Angriffskrieg. Es erklärt jedoch, worum Russland sich schließlich zu kriegerischen Handlungen gedrängt sah, um einer weiteren geopolitischen Schwächung und Bedrohung entgegenzuwirken.
All dies wird in der westlichen Berichterstattung, die einen zunehmend propagandistischen Charakter angenommen hat, heruntergespielt oder verschwiegen. Beschworen wird das Feindbild Russland und insbesondere Putin, der mit militärischen Mitteln in die Knie gezwungen werden müsse, um den russischen Expansionsdrang zu stoppen. Russland lehne einen Friedensschluss ab, hieß es kürzlich wieder, nachdem die russische Administration einen Vorschlag des französischen Präsidenten Macron, dem sich Selenskyj anschloß, zurückwies, zunächst einen Waffenstillstand zu Wasser und in der Luft zu beschließen. Traurig, aber kaum verwunderlich, besitzen die Russen hier doch eine klare Überlegenheit.
Selenskyj ist in einer Talkshow vor vor kurzem als tragische Figur bezeichnet worden. In der Tat: Zunächst angefeuert von der US-Administration und den westlichen Verbündeten und mit dem Versprechen versehen, man werde die Ukraine in die Lage versetzen, die von Russland annektierten Territorien zurückzuerobern, sieht er sich jetzt von der neuen Trump-Regierung zu einem trumpschen „Deal“ einschließlich eines Kompromisses unter der Prämisse von Gebietsabtretungen genötigt. Eine Kehrtwende seitens seines größten Sponsors, die er erst einmal verdauen muss. Ist es verwunderlich, dass er sich da wenig begeistert zeigt? Unter Trump seien die USA von der Diplomatie zu einer Dealomatie übergegangen, hieß es kürzlich in einem Facebook-Beitrag. Schon möglich! Den jungen Ukrainern und Russen an der Front kann es indessen egal sein, ob sie nach einem Friedensschluss ihr Leben der Diplo- oder der Dealomatie verdanken.
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