Individualität und die Sehnsucht nach dem ganz Anderen

Baum
Am Rand des Weges neigt sich eine krumm gewachsene Kiefer windschief über ein frühjahrgrünes Kornfeld. Es sieht aus, als strecke sie ihre Baumkrone dem Wald jenseits des Feldes entgegen, als wolle sie zu ihm hinüber wachsen, sich mit ihm vereinen.
Mich erinnert das Bild an das Dilemma unserer Individualität, unserer Persönlichkeit, die nur um den Preis des Getrenntseins zu haben ist? Einerseits wollen wir unsere individuelle Autonomie bewahren und akzentuieren. Wir konstruieren uns einen sozialen Kosmos, in dem wir im Mittelpunkt stehen. Wir streben nach sozialer Anerkennung, nach Einfluss, manchmal nach Macht. Dabei geht es insbesondere um die Verfügungsgewalt über materielle, soziale und emotionale Ressourcen, um Geld, das heißt um dinglichen Reichtum, um Anerkennung, aber auch um Liebe. Andererseits aber streben wir immanent einer Auflösung dessen zu, was uns von dem und den Anderen trennt: von unseren Mitmenschen, von der Natur, von dem großen Ganzen an sich.
Unser Leben resultiert nicht zuletzt aus der Dynamik, die sich in der Bewegung zwischen diesen beiden Polen entfaltet. Wenn es uns nicht gelingt, hier eine Balance zu finden, kann schnell ein Leiden an uns selbst entstehen. Dies ist wohl der Hintergrund vielfältigster psychischer Probleme, als da sind: Sucht, das sich selbst fremd werden, auch als Depersonalisierung bezeichnet, aber auch Kriminalität, der Verlust eines ethischen Wertesystems und andere Störungen der Persönlichkeit. Die Sehnsucht nach dem Einswerden mit dem Ganzen, mit dem ganz Anderen, ist letztlich immer die Sehnsucht nach Gott. In einer verdinglichten Welt aber ist diese Sehnsucht immer schwerer erkennbar und vielen fällt es schwer, sie überhaupt für sich zuzulassen. Denn das bedeutet loszulassen, wo wir doch alltäglich dazu aufgefordert werden, festzuhalten: Dinge, Einfluss, Deutungssysteme. Da, wo suggeriert wird, alles sei quantifizierbar, beherrsch- und erklärbar, da ist die Verdinglichung zum beherrschenden Lebensprinzip geworden. Demgegenüber müssen wir der Sehnsucht nach dem ganz Anderen, der Sehnsucht nach Gott, Raum geben. So wir diese Räume einfordern, für andere und für uns selbst, so wenden wir uns auch gegen die Verdinglichung. Vielleicht kann Kapitalismuskritik und Gottsuche auf diese Weise (wieder) zusammen kommen.

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