Der Milchbubi und die Pseudo-Religion

„Der tut nichts, der will nur spielen.“ Das in etwa ist derzeit sinngemäß der allgemeine mediale Tenor, wenn es um die Kriegsdrohungen des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un geht. Spielen bedeutet: die Verhandlungsposition für zukünftige Gespräche über das Atomprogramm zu verbessern, als Verhandlungspartner von den USA auf Augenhöhe ernst genommen zu werden und die Erfolgsaussichten für die eigenen politischen Forderungen zu erhöhen. Diese Ziele jedenfalls sind nach unseren Maßstäben logisch und politisch sinnvoll, und vergleichbare Motive beeinflussen gemeinhin das politische Taktieren und Handeln in der Diplomatie. Schließlich habe Nordkorea die internationale Staatengemeinschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit Drohungen und kriegerischem Verhalten dazu gebracht, das Land mit Hilfen in Milliardenhöhe zu unterstützen, schreibt beispielsweise der Nachrichtensender N24 in seiner Online-Ausgabe.
Also alles nur Säbelrasseln? Kann sein. Kann aber auch nicht sein. Dieser Kim Jong-un hat die pseudokommunistische Ideologie Nordkoreas quasi mit der Muttermilch eingetrichtert bekommen. Und als Spross der Kim-un’s und Nordkoreas Kronprinz hat er von Kindesbeinen an eine privilegierte Rolle in diesem seltsamen System eingenommen. Das wird ihn mit einem soliden Überlegenheitsgefühl ausgestattet haben, Omnipotenzphantasien inklusive.
Überhaupt sehen wir in Nordkorea bis zur Kenntlichkeit entstellt, was so gut wie allen der sogenannten realen Sozialismen anhaftete: eine säkularisierte Religion, in der sich die dominante Kaste quasi selbst zu einem höchsten Wesen stilisiert, die politischen Führer sich in den Rang anbetungswürdiger Götzen erheben und die Partei zu einem pseudoreligiös-transzendenten System mit eigenem Ritus und eigenen Ritualen wird. Man will dem Volk die Religion austreiben, indem man selbst die entstehend Leerstelle füllt. Funktioniert hat das nirgendwo, sondern in der Regel nur den Erosionsprozess solcherart Regimes beschleunigt. Denkmal, Führerkult, Nordkorea
Wahrscheinlich sind das nicht nur kleine Schönheitsfehler eines seiner Ursprungsidee entfremdeten Sozialismus, sondern diesem quasi von Anfang an zu eigen, jedenfalls, insofern er angetreten ist, die Religion überflüssig zu machen.
Es war immer schon ein Trugschluss zu glauben, Religion ließe sich abschaffen, wenn die Gesellschaft nur erst einmal gewisse soziale Standards erreicht habe. Die Frage nach den letzten Dingen, nach dem Sinn, nach dem Universellen, nach dem Leben und dem Tod, nach Gott, wird die Menschen immer umtreiben. Sie lässt sich nicht aus der Welt schaffen, sondern höchstens eine Weile mit Ideologie substituieren. Bisher sind noch alle Systeme, die behaupteten, irgendwann bedürfe es der Religion nicht mehr, gewissermaßen selbst überflüssig geworden. Allerdings: Die Frage nach einer besseren Form des Zusammenlebens, nach mehr Verteilungsgerechtigkeit, nach der Befreiung von sozialem Elend und Repression, war und ist keineswegs überflüssig. Die Fragen und Themen, die von den Sozialisten aufgeworfen wurden, sind brandaktuell. Versagt haben die Antworten.
Ach ja, wie kam ich jetzt darauf? Nordkorea. Als Milchbubi hat neulich jemand den neuen Machthaber bezeichnet. Das hat was. Aber mit dem Feuer spielende Milchbubis können ganz schön gefährlich werden.

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