Wohin jetzt mit dem Lutherkeks?

lutherkeks
Etliche Alt-Katholiken haben es aufgrund der alt-katholischen Diaspora-Situation bekanntlich ziemlich weit zu ihrer Kirche. Ich selbst kann von GlĂŒck sagen, dass meine nur am anderen Ende der Stadt – und nicht wie bei vielen anderen gleich am anderen Ende des Bundeslandes liegt. Wenn mir aber manchmal selbst das zu weit ist, beispielsweise weil ich gerade wenig Zeit habe aber trotzdem einen Sonntagsgottesdienst besuchen möchte, dann gehe ich auch schon mal in die evangelische Kirche hier gleich bei uns um die Ecke.
So geschah es auch an jenem Herbstsonntag im Oktober 2013. Als ich die Kirche betrat, merkte ich indes gleich, das irgend etwas anders war als sonst. Vor dem Regal mit den GesangbĂŒchern war beispielsweise ein Tisch aufgebaut, der den Griff zu den BĂŒchern per se verhinderte. Stattdessen bekam ich von einer freundlich lĂ€chelnden Gemeindehelfern hinter dem Tisch ein kleines Heftchen in die Hand gedrĂŒckt. Außerdem bat man mich, doch in den ersten Bankreihen Platz zu nehmen, damit alle nĂ€her zusammen seien. Ich tat wie mir geheißen und schaute auf das Heftchen: „Jugendgottesdienst“ stand da in fetten Lettern. Au weia. Mir schwante Schlimmes. Aber um unauffĂ€llig das Weite zu suchen, war es jetzt schon zu spĂ€t. Da musste ich also durch.
PĂŒnktlich um zehn stand eine der nicht mehr ganz so jugendlichen Kirchenbesucherinnen auf und eilte zur Kanzel. „Hallo“, begrĂŒĂŸte sie die Anwesenden: „meine Name ist Soundso und ich heiße Sie im Namen des Kirchenvorstandes herzlich willkommen. Echt toll, dass Sie so zahlreich zu unserem Jugendgottesdienst erschienen sind. Ich will auch gleich an unsere Jugendlichen weitergeben, die diesen Gottesdienst heute vorbereitet haben.“ Von nun an steuerten also vier smarte Teennager das Geschehen.
Als Einstand gab es statt Kyrie und Gloria erst einmal zwei mit der Gitarre begleitete Songs der Marke 80er-Jahre Kirchenpop. Bei dieser Musikgattung wĂŒrde ich zuhause konsequent das Radio abdrehen. Aber eine solche Option schied hier ja aus.
Die Lesung der Epistel wurde durch einen von den Jugendlichen vorbereiteten und mit Powerpoint animierten Lichtbildervortrag ersetzt. Und da sich dieser Sonntag in zeitlicher NĂ€he zum Reformationstag befand, handelte der Vortrag natĂŒrlich vom großen Kirchenreformator Martin Luther. Luther, so erfuhr man, habe zum GlĂŒck den ganzen katholischen Ballast ĂŒber den Haufen geworfen und das Christentum wieder auf seine Wurzeln zurĂŒck gefĂŒhrt. Was sonst noch so darin vorkam, weiß ich nicht mehr. Vielleicht, weil ich mich zu sehr ĂŒber diese meiner Meinung nach arg verkĂŒrzte Sichtweise Ă€rgerte. Ich gebe zu, ich musste mich an dieser Stelle innerlich schon stark zu der gebotenen ökumenischen Toleranz zwingen. Eine meiner schlechten Eigenschaften ist es, mich schnell aufzuregen.
FĂŒr das Evangelium und die Predigt hatten sich die Jugendlichen etwas richtig Schönes zum Mitmachen ausgedacht. „Wir lesen das jetzt abschnittsweise vor, und dann wollen wir mal hören, was euch dabei so einfĂ€llt“, lautete die Ansage. Gesagt, getan. Es ging an jenem Tag um die Heilung des AussĂ€tzigen durch Jesus Christus, ich glaube nach Lukas 5: „Und es begab sich, als er in einer Stadt war, siehe, da war ein Mann voller Aussatz.“ Hier unterbrach der junge Mann seinen Vortrag zum ersten Mal und schaute erwartungsvoll in die Reihen der Kirchenbesucher. „Was meint ihr denn, wie sich der AussĂ€tzige da so gefĂŒhlt hat“, fragte er nach. Schweigen.
Hier in unserem Stadtteil gibt es eine kleine Wohneinrichtung fĂŒr geistig behinderte Menschen, und einige von ihnen besuchen regelmĂ€ĂŸig den evangelischen Sonntagsgottesdienst in dieser Kirche. Ihre einfache und unmittelbare Frömmigkeit finde ich immer wieder recht erfrischend. Nachdem auf die Frage des Jugendlichen hin einige Minuten Schweigen geherrscht hatte, rief eine der Behinderten fröhlich aus: „Guut!“. „Gut? Hmm.“ Das war wohl irgendwie die falsche Antwort, die Jugendlichen machten einen pikierten Eindruck und setzten ihren Vortrag in diesem Stil – also immer wieder mit RĂŒckfragen garniert – fort.
Das Ganze zog sich quĂ€lend und zĂ€h in die LĂ€nge. Die Behinderten wagten nichts mehr zu sagen. Indes kam langsam Unruhe in ihren Reihen auf. „Du bleibst jetzt hier“, herrschte einer seine Begleiterin an. „Lass mich in Ruhe“, schimpfte die zurĂŒck und machte Anstalten, sich Richtung Ausgang zu bewegen. Ein scharfes Gezischel von den Anwesenden um sie herum hielt sie jedoch davon ab. Die Jugendlichen machten einen noch pikierteren Eindruck.
Behinderte haben ein gutes GespĂŒr fĂŒr seltsame Situationen. Wie gern hĂ€tte auch ich sang und klanglos diesen Ort verlassen. Aber das war leider nicht möglich ohne Aufsehen zu erregen. Irgendwann war das Frage-Antwort-Spiel ja auch vorbei. Alle atmeten merklich auf.
Jetzt meldete sich zum ersten Mal die in der ersten Reihe sitzende Pastorin in ihrem schwarzen Talar zu Wort: „So, und nun wollen wir alle mal nach vorn kommen und einen Kreis um den Altar bilden“, gab sie bekannt. Ich wollte zwar eigentlich nicht, aber andererseits eben auch kein Aufsehen erregen. Also ging ich mit. Als sich alle versammelt hatten, gab die Pastorin den Zweck des Arrangements bekannt: „Wir verteilen hier nun einen Lutherkeks, den wir nach dem Gebet zum Zeichen der Verbundenheit alle gemeinsam essen wollen. Aber bitte alle zusammen“, ermahnte sie noch einmal eindringlich.
Die Kekse – Butterkeks mit dem Lutherwappen drauf – wurde verteilt, auch ich nahm notgedrungen einen entgegen. Aber ich konnte jetzt doch unmöglich hier mit den Anwesenden einen Lutherkeks essen. Man mag mir diesen unökumenischen Impuls verzeihen, aber ich fĂŒhlte mich in dieser Situation alles andere als verbunden. Dem, was sich in mir angesichts dieser meinem Empfinden nach unmöglichen Inszenierung einer vorgetĂ€uschten Eucharistie abspielte, wird man vielleicht noch am ehesten mit der Begriff „FremdschĂ€men“ gerecht. Und ĂŒberhaupt, diese katholikenfeindlichen AusfĂŒhrungen vorneweg: nein, hier irgendetwas zum Zeichen der Verbundenheit zu tun, das ging rein gar nicht. Da hĂ€tte ich am nĂ€chsten Tag nicht in den Spiegel gucken können.
Die Behinderten in unserem Kreis schienen sich da weit weniger Gedanken zu machen. Sie mĂŒmmelten trotz der Ermahnung des Pastorin fröhlich ihre Kekse, noch bevor jene das Startsignal zum gemeinschaftlichen Verzehr gegeben hatte. Und ernteten dafĂŒr wieder pickierte Blicke, diesmal nicht nur von den Jugendlichen, sondern auch von der Pastorin.
Die haben irgendwie ein intuitives GefĂŒhl dafĂŒr, ob etwas wirklich heilig ist oder ob nur so getan wird, ging mir durch den Kopf. Ich fand jedenfalls, die Behinderten machten hier von allen Anwesenden noch die beste Figur.
Im Gegensatz zu mir, denn mir bereitete die Frage, was tun mit dem Keks, nun wirklich ernsthaftes Kopfzerbrechen. Ich hielt das lutherische GebĂ€ck in der rechten Hand, die ich auf das Zeichen zum Keksessen hin ein wenig Richtung Kopf bewegte und dann wieder sinken ließ. Dabei hielt ich den Keks so mit der HandflĂ€che bedeckt, dass meine Verzehrverweigerung nicht groß auffallen konnte.
Bis hierhin war die Angelegenheit also einigermaßen gut gegangen. Dann allerdings brachte mich die Pastorin jĂ€h noch tiefer in die Bredouille: „Jetzt fassen wir uns alle bei den HĂ€nden und sprechen zusammen das Vaterunser“, lautete ihre neuerliche Regieanweisung. Oh nein, bei den HĂ€nden fassen, wohin jetzt bloß mit dem Keks. Fieberhaft sann ich ĂŒber einen Ausweg aus dieser völlig verfahrenen Situation nach. Dabei viel mein Blick auf das Lesepult beziehungsweise den Ambo (ich weiß nicht genau, ob diese Bezeichnung in evangelischen Kirchen noch ĂŒblich ist?), der sich ein StĂŒck weit rechts hinter mir befand. Ich schaffte es tatsĂ€chlich noch vor dem allgemeinen HĂ€ndefassen, den Keks dort einigermaßen unauffĂ€llig auf einer Ablage zu platzieren.
Jetzt sann ich allerdings darĂŒber nach, wie ich weiter mit dem Keks verfahren sollte. Einfach liegen lassen? Das fand ich nicht so gut. In die Tasche stecken und mit nach Hause nehmen? Irgendwie entsorgen?
Ich war mir schon darĂŒber klar, dass es sich hier einfach nur um einen Keks und um keine konsekrierte Hostie handelte. Dass hier etwas stattgefunden hatte, was nie und nimmer eine Eucharistiefeier sondern lediglich das Nachspielen einer solchen war– ich es hier also letztlich mit etwas Profanem tun hatte. Und trotzdem: Mein Ehrfurcht vor der Eucharistie war und ist so groß, dass ich nicht willentlich respektlos mit etwas umgehen kann, was auch nur im Entferntesten daran erinnert.
Nachdem das Gebet beendet war, schnappte ich mir also unauffĂ€llig den Lutherkeks und kehrte an meinen Platz zurĂŒck. Auf den Gedanken, den Keks jetzt noch, also in einem eher unverfĂ€nglichen Kontext, zu verzehren, kam ich komischerweise gar nicht. Ich legte das Liedheftchen auf die Ablage vor meiner Bank und platzierte den Keks deutlich sichtbar auf dem Heftchen. Nach dem Schlusssegen verließ ich eilends die Kirche. Draußen angekommen, atmete ich auf. Das war geschafft. Die Verantwortung fĂŒr das weitere Schicksal meines Lutherkekses hatte ich jetzt also an die Urheber dieses Events zurĂŒck gegeben. Damit konnte ich einigermaßen leben.
Allerdings: in dieser Kirche war ich bisher noch nicht wieder.

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