Christentum und Emanzipation

SĂ€kularisierung – geschichtliche Entwicklung – BĂŒrgertum

In der Bibelpassage MatthĂ€us 22, Vers 15-22 des Neuen Testaments spricht Jesus Christus ĂŒber das VerhĂ€ltnis von weltlicher und transzendenter Herrschaft:

„15 Da gingen die PharisĂ€er hin und hielten Rat, wie sie ihn in seinen Worten fangen könnten; 16 und sandten zu ihm ihre JĂŒnger samt den AnhĂ€ngern des Herodes. Die sprachen: Meister, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und lehrst den Weg Gottes recht und fragst nach niemand; denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen. 17 Darum sage uns, was meinst du: Ist’s recht, dass man dem Kaiser Steuern zahlt, oder nicht? 18 Als nun Jesus ihre Bosheit merkte, sprach er: Ihr Heuchler, was versucht ihr mich? 19 Zeigt mir die SteuermĂŒnze! Und sie reichten ihm einen Silbergroschen. 20 Und er sprach zu ihnen: Wessen Bild und Aufschrift ist das? 21 Sie sprachen zu ihm: Des Kaisers. Da sprach er zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! 22 Als sie das hörten, wunderten sie sich, ließen von ihm ab und gingen davon.“

Jesus verweist Göttliches und weltliche Regentschaft auf zwei verschiedene Ebenen, er unterscheidet weltliche und göttliche AnsprĂŒche. Damit entwickelt er eine der wesentlichen christlich-diskursiven Grundlagen fĂŒr die Nicht-IdentitĂ€t von Religion und Macht und damit letztendlich fĂŒr die SĂ€kularisierung weltlicher MachtausĂŒbung.
Ernst Bloch hat in seiner Schrift „Atheismus im Christentum“ unter anderem diesen Aspekt aufgegriffen und dargelegt, dass das Christentum zahlreiche gegen Herrschaft und Ausbeutung gerichtete plebiszitĂ€re Botschaften enthĂ€lt, die auch fĂŒr eine an Befreiung im Hier und Jetzt interessierte Linke bedeutsam sind. Bloch hat recht: Die christliche Offenbarung ist voll von Antagonismen zwischen oben und unten, arm und reich, dem Reich Gottes und weltlicher MachtfĂŒlle. Obgleich die Geschichte des Christentums auch eine ĂŒber tausendjĂ€hrige Geschichte der Machtkirche und der Kirchenmacht ist, kamen Herrschaft und VerkĂŒndigung nie vollends zusammen, ging das eine nie ganz in dem anderen auf, ist die Geschichte des Christentums auch eine Geschichte der NichtidentitĂ€t zwischen Herrschaft und ReligiositĂ€t. Durch die Geschichte des Christentums insgesamt zieht sich nicht erst seit der Reformation der Unterstrom eines revolutionĂ€ren, herrschaftskritischen Diskurses, der wesentlich zur Dynamik der Entwicklung christlicher Gesellschaften beigetragen hat und so etwas wie – sagen wir – eine ideelle Produktivkraft des Fortschritts darstellt. In dieser NichtidentitĂ€t sind einige entscheidende Ursachen fĂŒr die Entkoppelung von Religion und Machapparat enthalten, die sich einerseits in der Entfernung des Religiösen vom Weltlichen und andererseits in der religiös motivierten Herrschaftskritik ausdrĂŒcken. In den meisten anderen Religionen hat es so etwas nicht gegeben.
Insofern ist das BĂŒrgertum und seine kapitalistische Gesellschaft das Ergebnis eines SĂ€kularisierungsprozesses, der den christlichen Gesellschaften von Anbeginn eingeschrieben war und in Zusammenhang mit der Entwicklung der ProduktivkrĂ€fte schließlich in die AufklĂ€rung und die bĂŒrgerliche Gesellschaft mit all ihren WidersprĂŒchen und Verwerfungen mĂŒndete.
Die SĂ€kularisierung war jenes PhĂ€nomen, welches Produktivkraftentwicklung und protestantische Ethik zum amalgamieren brachte. Nicht der Zufluss von Ressourcen bedingte die SĂ€kularisierung, vielmehr bedingte die SĂ€kularisierung die produktive Verwertung der Ressourcen. Denn nur im Kontext des Prozesses der SĂ€kularisierung, der Infragestellung der religiös legitimierten Macht und des religiösen und politischen Herrschaftsanspruchs der Machtkirche, (der Konstruktion eines vor Gott und in der Welt autonomen Individuums) mithin durch die Entstehung des bĂŒrgerlichen Subjekts und des BĂŒrgertums als Schicht beziehungsweise Klasse, konnten die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und der Zufluss von Ressourcen zu jener wirtschaftlichen Kraft werden, die Kapital – also Wert in Geldform zwecks Neuschaffung von Wert in Geldform in immer grĂ¶ĂŸeren Mengen – produzierte und schließlich den Kapitalismus schuf. Als die Spanier begannen, das Gold der Inkas auszuplĂŒndern, war ein weit entwickeltes BĂŒrgertum geschĂ€ftiger Kaufleute in den StĂ€dten der Hanse und insbesondere in den noch spanischen aber bereits protestantischen Niederlanden lĂ€ngst vorhanden, das diesen Zufluss an WarenĂ€quivalenten begierig aufsog und in seinen Manufakturen zu jenem ursprĂŒnglichen Kapital akkumulierte, welches schließlich die Grundlage fĂŒr die Entstehung und Ausbreitung des markwirtschaftlichen Kapitalismus bilden sollte. Die SĂ€kularisierung war der christlichen Gesellschaft dabei bereits eingeschrieben, als jene KrĂ€fte, die sie hervorgebracht hatte, daran gingen, die ZĂŒnfte zu zerstören, die Allmende als gemeinschaftliches Eigentum zu zerschlagen und das autonome bĂŒrgerliche Individuen zu formen.

Christentum und Emanzipation

Emanzipation ist christlich! Der gekreuzigten Christus hat sich durch seinen Tod und durch sein Sterben am Kreuz tiefer zu den Erniedrigten, Geknechteten, Verlassenen und Verachteten hinabgebeugt, als je ein Mensch sich vor einem anderen verbeugen kann. Das Kreuzesopfer Christi ist daher auch die grĂ¶ĂŸtmögliche solidarische Geste gegenĂŒber den Opfern von Macht und Gewalt. Gerade deshalb wird in diesem Motiv auch nicht nur Opfer als solches verherrlicht. Durch die Hinwendung an die Opfer wird vielmehr auch die Macht und Gewalt denunziert, der diese Opfer immer wieder unterliegen, damit durch das eine Opfer Christi alle weiteren Opfer ein fĂŒr allemal ĂŒberflĂŒssig werden, ein Prozess, der nur durch eine macht- und gewaltfreie Konstitution des menschlichen Zusammenlebens gelingen und vollendet werden kann. Das Bild des gekreuzigten Christus ist mithin auch radikalste Gewaltkritik! Das christliche Ostern reprĂ€sentiert daher auch die Einleitung eines Prozesses der radikalen Kritik, dessen Ziel und Fluchtpunkt es eben ist , “alle VerhĂ€ltnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verĂ€chtliches Wesen ist“ (Marx). Genau aus diesem Grund ist dem Christentum ein antiideologisches Moment und der Machtkirche quasi ihr eigener Antagonismus von Anfang an eingeschrieben. Dieser Umstand hat seit 2000 Jahren fĂŒr reichlich soziale Bewegung gesorgt! Machtkritik und Emanzipation haben grundsĂ€tzlich jĂŒdisch-christliche Wurzeln. Das Christentum hat der jĂŒdischen Ethik einen universellen Impetus gegeben und mit dem Gekreuzigten der eschatologischen Tendenz des JĂŒdischen eine konkrete und reale Utopie verliehen, eine Realutopie sagte man frĂŒher innerhalb der Linken. In der Adventszeit, der Zeit, in der die Ankunft von Christus erwartet wird, wird daran erinnert, was im Lukasevangelium, in den Magnificat genannten Versen, ĂŒber das Erscheinen Christi gesagt wird: „Denn Großes hat an mir getan der MĂ€chtige, / heilig ist Sein Name. / Und Sein Erbarmen waltet von Geschlecht zu Geschlecht / ĂŒber allen, die ihn fĂŒrchten. / Er ĂŒbt Macht mit Seinem Arm, / zerstreut, die stolzen Sinnes sind. / MĂ€chtige stĂŒrzt er vom Thron, / und Niedrige erhöht Er. / Hungrige erfĂŒllt er mit GĂŒtern, / und Reiche lĂ€ĂŸt Er leer ausgehen.“ Macht- und Herrschaftskritik haben seither immer wieder an den Grundfesten von Klassengesellschaften gerĂŒttelt.“ Das Magnificat ist gleichsam die Grundlegung von Emanzipation und AufklĂ€rung!
Machtkritik und Emanzipation speisen sich heute nur noch mittelbar aus diesen Quellen und haben sich im Prozess der AufklĂ€rung bekanntermaßen ihrerseits sĂ€kularisiert. Insofern sind Judentum und Christentum die einzigen Religionen, die durch die ihnen innewohnenden SĂ€kularisierungstendenzen quasi ihre eigene Antithese hervorgebracht haben: die Religionskritik. Sie ist Fleisch vom Fleisch des Judentums und des Christentums und wird, wenn sie ihren pubertĂ€ren Atheismus ĂŒberwunden hat, konzedieren mĂŒssen, das Ideologiekritik an einer ins MachtverhĂ€ltnis gewendeten Religion etwas ganz anderes ist als die Auseinandersetzung und Erfahrungssuche in Richtung auf jene universelle Intelligenz, die wir Gott nennen.

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