Die Forderung zu Weihnachten: Bettler rein!

Vor einigen Tagen war ich zum Weihnachtshopping in der Innenstadt unterwegs. Als ich so durch die City Mall schlenderte, kam mir eine junge Frau entgegen – dunkler Typ, schwarzes Haar, langer weiter Rock und abgewetzter Mantel. Eine Erscheinung, die wir zielsicher mit osteuropĂ€ischem Roma identifizieren.

Die Lady sah mich und stĂŒrzte sofort auf mich zu: „Bitte bitte helfen“, rief sie und reckte mir ihre gefalteten HĂ€nde entgegen. Solche theatralischen Demutsgesten gehen uns coolen MitteleuropĂ€ern – so auch mir – ganz erheblich auf die Nerven. Um möglichst schnell aus dieser Situation herauszukommen, gab ich ihr flugs einen Euro und machte mich auf und davon.

Nachdem ich einige Sachen erledigt hatte, begab ich mich etwa eine Stunde spĂ€ter zurĂŒck auf den Weg zum Parkhaus. Da lief mir genau jene Lady ein zweites Mal ĂŒber den Weg. Die Frau sah mich, grinste kurz, steuerte zielgenau in meine Richtung und hob wieder mit erbarmungswĂŒrdigem Wehklagen an: „Bitte helfen, zu viele Kinder, keine Mann, bitte!“ Ich kann Leute, die so offensichtlich arm sind, nicht einfach stehen lassen, auch wenn sie mir auf die Nerven gehen. Vielleicht sieht man mir das an. Und wenn schon.
Bei dieser „WiederholungstĂ€terin“ war ich zwar doppelt genervt, aber okay, sollte sie doch noch einen Euro haben – ich hatte gerade ein Vielfaches davon ausgegebven. Allerdings schien die Dame zu merken, dass sie mit mir einen guten Fang gemacht hatte. Bei einem Euro ließ sie es daher nicht bewenden sondern drang darauf, dass ich mit ihr zum nahegelegenen Discounter gehen solle, um ihr einen Einkauf zu bezahlen. Das fand ich jetzt doch echt – zu viel des Guten. Bettler sollen gefĂ€lligst mit dem zufrieden sein, was man ihnen zusteckt. UnterwĂŒrfig war die Dame nicht, dafĂŒr um so theatralischer. Ich sann auf eine Fluchtmöglichkeit, steckte ihr dann schnell 10 Euro zu, drehte mich auf dem Absatz um und eilte davon. Nach einigen Metern blickte ich noch einmal zurĂŒck. WĂŒrde sie mir folgen? Die Frau sah mir aber nur mit ernstem, irgendwie ĂŒberraschten Gesicht nach und rief mir dann noch „danke“ hinterher.
Schorsi spinnt – das war der spontane Impuls eines Bekannten, dem ich davon erzĂ€hlte. Zu weich fĂŒr diese Welt. Vielleicht hat er auch insgeheim gedacht: zu blöd – lĂ€sst sich sofort um den Finger wickeln. LĂ€sst sich von so einer „Zigeunerbraut“ um zehn Euro erleichtern. Die muss ihre Kohle doch sowieso bei irgendeinem stinkreichen Mafiosiboss abliefern.
Nun ja, vielleicht.

Ich glaube aber, unsere Welt krankt nicht an zuviel Barmherzigkeit – sondern an zu wenig. Und lieber lasse ich mich von einer Roma-Lady beim (Weihnachts-)Einkauf bescheißen, als mich gegenĂŒber Not zu verhĂ€rten. Und was heißt schon bescheißen: falls sie fĂŒr einen rumĂ€nischen Mafiosi arbeitet, muss sie das auch nur tun, um selbst ĂŒber die Runden zu kommen. Was wissen wir schon ĂŒber die AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnisse in diesen ZusammenhĂ€ngen?
Ich selbst bin dabei aber gar nicht so uneigennĂŒtzig und edel, wie ich vielleicht zunĂ€chst den Anschein erwecke(n) will. Denn mit dem Geben und dem ErzĂ€hlen dieser Geschichte erhebe ich mich natĂŒrlich auch moralisch. Ich schlĂŒpfe, wie der ehemalige katholische Blogger Johannes Martin Grannenfeld (dessen Blog inzwischen leider geschlossen ist) in einem seiner klugen Artikel haarscharf feststellte, in die Rolle des Überlegenen (und Guten), der sich in der Peinlichkeit des gnĂ€digen Hinabbeugens zu dem Bettler gleichsam selbst erhöht:

Grannenfeld:

Die Peinlichkeit des Almosengebens besteht darin, dass ich einem Menschen gegenĂŒberstehe, den ich zu achten und zu lieben bereit bin wie jeden anderen auch – und dass mir das aufgrund der Situation verwehrt bleibt. Ich erlebe mich beim Almosengeben zwangslĂ€ufig als hochmĂŒtig, da ich die Rolle des Überlegenen einnehme, selbst wenn ich das nicht will.

Das ist ein Dilemma, das Grannenfeld mit christlicher Dialektik auflöst.

„Christus spricht selbst: ‚Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten BrĂŒdern, das habt ihr mir getan’ (Mt 25, 40). „Im Bettler erblicken wir Christus, (…) Der Bettler, der nichts hat, und Christus, der alles hat, entsprechen einander, weil Christus die FĂŒlle dahingegeben hat und der Bettler die FĂŒlle gewinnen wird. Wir aber, wir ‚normalen’ Menschen, stehen dazwischen. Wir werden nie mit dem Bettler und nie mit Christus auf Augenhöhe stehen.“

Wir kommen aus dem Dilemma nur durch den Glauben an Christus raus, sagt Grannenfeld. Christus reißt die, die an ihn glauben, mit sich „ins Paradies“. Er beugt sich zu uns herab wie zu Bettlern. Und im Bettler begegnet er uns gleichsam selbst.

Diese Geschichte von der Roma-Bettlerin und Grannenfelds Blogbeitrag fielen mir heute wieder ein, als ich i meinem noch nicht entsorgten Altpapier einen Artikel in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung fand (HAZ) in dem darĂŒber berichtet wurde, dass in Norwegen ein Verbot fĂŒr Bettler geplant sei. In Norwegens Hauptstadt Oslo bestand schon seit einem Jahr ein Bettelverbot, jetzt sollte es auf das ganze Land ausgedehnt werden.

„Sogar das Geben von Almosen an Bettler will die Regierung künftig unter Strafe stellen. Wer Bettlern hilft, soll mit bis zu einem Jahr GefĂ€ngnis bestraft werden. Strafbar ist laut dem Regierungsentwurf jede Art von Gabe, die Bettelei erleichtert, ob es sich nun um Geld oder eine Herberge handelt (HAZ vom 08.02.2015).“

Norwegen macht dem restlichen Europa vor, wie mit dem unschönen Nebeneffekt der europĂ€ischen Einigung umzugehen ist. NatĂŒrlich gehe es in erster Linie darum, die organisierte Bettelei zu bekĂ€mpfen, beteuerte man im norwegischen Justizministerium.
Handel und Wandel, gern. „Qualifizierte FachkrĂ€fte“, herein damit. Aber dass es in diesem Europa auch schreiendes Elend und Slums gibt, das muss man sich nicht auch noch zumuten. Erstens haben wir jetzt schließlich “richtigen” FlĂŒchtlinge hier – die aus Syrien – und außerdem macht es uns schon genug Scherereien, das eigene Lumpenproletariat aus den Shoppingmeilen unserer InnenstĂ€dte zu vertreiben.
Die bettelnden Zigeuner mit ihrem wahlweise unterwĂŒrfigen oder theatralischem Gehabe nerven. Sie verderben uns die gute Laune. „So einem Penner gebe ich ja schon mal einen Euro, das ist okay, aber die mit ihrem unterwĂŒrfigem Gehabe, das geht gar nicht“, habe ich schon oft in meinem Bekanntenkreis gehört. Da stimme ich ganz spontan sogar erst einmal zu.
Kriminelle Banden? Vielleicht. Wo Not ist, entsteht KriminalitĂ€t. Die Not fĂŒhrt uns die eigene Saturiertheit vor Augen. Wir wollen doch kein schlechtes Gewissen kriegen, beim Einkaufen. Das bringt den Spießer auf die Palme und weckt den kleinen Spießer in uns selbst.

Die Roma sind die Parias Europas, das europĂ€ische Lumpenproletariat. Selbst unter den FlĂŒchtlingen stehen sie auf der Mitleidsskala ganz unten. Erst vor kurzem hat man Hunderte von ihnen in den Kosovo abgeschoben, ohne dass es jemanden der vielen FlĂŒchtlingsfreunde groß interessiert hĂ€tte (den FlĂŒchtlingsrat Niedersachsen mal ausgenommen).
In ihren HerkunftslĂ€ndern sind die Roma abgeschoben in Slums, an den Rand von MĂŒllkippen. Sie zeigen uns, dass es in diesem Europa ein Elend gibt, das wir doch eigentlich in die sogenannte Dritte WeltverdrĂ€ngt sahen. Das hat doch nichts mit uns zu tun. Doch genau dieses Elend kommt uns immer nĂ€her. Dass die Elenden in unsere StĂ€dte kommen, um etwas besser zu leben als in den Slums ihrer HeimatlĂ€nder, das passt uns nicht. Wir wollen es nicht sehen, denn wenn wir es wirklich sehen wĂŒrden, mĂŒssten wir uns wohlmöglich irgendwie verantwortlich fĂŒhlen.
Und genau deshalb mĂŒssen die Elenden auch in unserer schönen metropolitanen Glitzerwelt bleiben. Um uns zu zwingen hinzuschauen – nicht nur zu Weihnachen!
Die Bettler aus unseren StĂ€dten, aus unserem Leben zu vertreiben, das heißt (nicht nur) aus der Perspektive von Grannenfelds christlicher Dialektik auch, Christus selbst aus unserem Leben zu vertreiben. In diesem Sinne kann ich ganz weihnachtlich nur sagen: Bettler rein!

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