Sakramentale Notgemeinschaft

Anfang des Jahres 2012 veröffentlichten der alt-katholische Theologe Andreas Krebs und der Trierer Psychologe Dirk Kranz die sogenannte relAK-Studie zur Religiosität in der alt-katholischen Kirche. In dieser Studie hatten die beiden Wissenschaftler auch die Mitgliederstruktur ihres kirchlichen Untersuchungsgegenstandes unter die Lupe genommen. Aus methodischen GrĂĽnden erreichten sie mit ihrer Untersuchung in erster Linie die regelmäßigen Gottesdienstbesucher unter den Alt-Katholiken. 79 Prozent der Befragten, so das Ergebnis der Studie, waren Konvertiten. Von ihnen kamen 83 Prozent aus der römisch-katholischen Kirche und nur 12 Prozent aus protestantischen Glaubensgemeinschaften. Die alt-katholische Kirche sei eindeutig eine “Entscheidungskirche”, folgerten die Wissenschaftler.
Nun ja, eine recht euphemistische Sichtweise. Anders ausgedrückt: Alt-Katholiken sind Fleisch vom Fleisch der römischen Kirche und können sich aus sich selbst heraus kirchlich nicht reproduzieren. Alt-Katholiken gibt es überhaupt nur deshalb, weil immer wieder römisch-katholische Christen ihre Kirche verlassen und zu den Alt-Katholiken übertreten. Hier werden solche Übertritte in der Regel ohne Wenn und Aber begrüßt.

Fortgesetzte Kirchenspaltung

Ich kann diese Freude indes nicht uneingeschränkt teilen. Okay, einerseits bin ich froh, dass es die alt-katholische Kirche und insbesondere meine alt-katholische Gemeinde in Hannover gibt. Aber: An anderer Stelle habe ich geschrieben: „Jesus Christus hat eine Kirche gestiftet. Wenn es richtig ist, dass alle Christen durch und in der Kirche den mystischen Leib Christi bilden, dann ist alles zu tun, um die Einheit der Kirche (in Vielfalt) herbeizuführen. Oder andersherum: alles, was die Kirche weiter spaltet, ist zu unterlassen.“
Die alt-katholische Konfession aber ist im Prinzip ein Ausdruck fortgesetzter Kirchenspaltung. Das kann kein Grund zu uneingeschränkter Freude sein. Im Gegenteil. An der Spaltung der Christenheit gibt es meiner Meinung nach wenig zu feiern. Darum auch löst beispielsweise die Aufforderung unserer protestantischen Mitchristen, alle Konfessionen sollten gemeinsam die Reformation “feiern”, immer ein wenig Befremden in mir aus.
Aber zurück zu den Alt-Katholiken. Weil jeder Übertritt aus der römisch-katholischen Kirche immer auch ein Ausdruck der Kirchenspaltung ist, sehe ich einen solchen Schritt immer auch skeptisch. So wie man nicht ohne Not einfach eine „neue Kirche gründen“ kann, sollte man auch der römisch-katholischen Kirche nicht ohne Not den Rücken kehren, meine ich. Sie ist und bleibt Referenzpunkt der westlichen Christenheit, sie ist das bedeutendste und größte Glied Seiner Kirche – mit dem Petrusamt an der Spitze.

Ein Ort der Barmherzigkeit

Gibt es vor diesem Hintergrund überhaupt eine Legitimation für den Wechsel von der römisch-katholischen zur alt-katholischen Konfession? Und schließlich: gibt es vor dem Hintergrund dieses Kirchenverständnisses überhaupt eine Legitimation für den Alt-Katholizismus?
Ich glaube ja.
Als sich am Ende des 19. Jahrhunderts die ersten alt-katholischen Christen versammelten, kam es ihnen erst einmal gar nicht in den Sinn, eine andere Kirche zu schaffen. Aber sie konnten zu den neuen Dogmen in der Kirche, insbesondere zu der nach dem I. Vatikainischen Konzil veränderten Rolle des Papstes, aus Gewissensgründen und aufgrund ihres Festhaltens an der alten katholischen Tradition, nicht ja sagen. Und deshalb mussten sie sich zwangsläufig als exkommuniziert betrachten, denn so hatte es das Konzil ja beschlossen: „Wer also sagt, der römische Bischof habe nur das Amt einer Aufsicht oder Leitung und nicht die volle und oberste Gewalt der Rechtsbefugnis über die ganze Kirche – und zwar nicht nur in Sachen des Glaubens und der Sitten, sondern auch in dem, was zur Ordnung und Regierung der über den ganzen Erdkreis verbreiteten Kirche gehört –; oder wer sagt, er habe nur einen größeren Anteil, nicht aber die ganze Fülle dieser höchsten Gewalt, oder diese seine Gewalt sei nicht ordentlich und unmittelbar, ebenso über die gesamten und die einzelnen Kirchen wie über die gesamten und einzelnen Hirten und Gläubigen, der sei ausgeschlossen.“
Schließlich ergab sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, die apostolische Sukzession durch die Weihen der römisch-katholischen Kirche von Utrecht fortzusetzen. Diese Chance nutzten die Altkatholiken, um eine sakramentale Notgemeinschaft zu schaffen. Nur daraus bezog dieser Zusammenschluss von Katholiken seine Legitimation, eine sakramentale Notgemeinschaft zu sein: weil ein römisch-katholisches Gremien Beschlüsse gegen die Tradition und gegen die Positionen der Gesamtkirche – zu der auch die großen Ostkirchen gehören – gefasst und damit einen Teil der Katholiken der faktischen Exkommunikation überantwortet hatte.
Meiner Meinung nach ist das bis heute so geblieben: die Alt-Katholiken bilden eine sakramentale Notgemeinschaft mit kirchlichen Strukturen und der Vollmacht zur Bischofsweihe durch die in ihr wirkende apostolische Sukzession. Die alt-katholische Kirche ist eine sakramentale Notgemeinschaft, nicht mehr und nicht weniger. Hier finden die Merkwürdigen, Zweifler und Sünder Zuflucht, jene, die an der Ehe gescheitert und daher von der Kommunion in der (römisch-katholischen) Kirche ausgeschlossen sind, Priester, die ihr geistliches Amt lieben ­– aber eben auch eine Frau; jene Sünder auch, die an der Moral- und Sittenlehre der Kirche scheitern aber dennoch die Nähe zu Jesus Christus suchen. Es ist gut, das es so einen Ort gibt, weil es – wie ich glaube – dem christlichen Gebot der Barmherzigkeit entspricht.

Keine bessere katholische Kirche!

Was die Alt-Katholiken aber bestimmt nicht sind: eine bessere katholische Kirche. Im Gegenteil: die alt-katholischen Institutionen haben sich mittlerweile in so wesentlichen Aspekten wie der Frauenweihe, dem Eheverständnis und anderen Fragen des katholischen Glaubens gegen die katholischen Traditionen gestellt, das die Papstdogmen zumindest in ihrer praktischen Relevanz heute fast schon wie Peanuts erscheinen.
In vielen Fällen würde ich Übertrittswilligen daher am liebsten sagen: kommt zu uns, feiert mit uns die Eucharistie, betet mit uns – aber bleibt in der römisch-katholischen Kirche, solange euch nicht die schiere Not treibt. Natürlich sehe ich das Dilemma: damit es einen altkatholischen Zufluchtsort gibt, braucht die alt-katholische Kirche kirchensteuerzahlende Mitglieder. Nur so können Kirchen gebaut und unterhalten und Priester bezahlt werden.
Aber grade weil der alt-katholischen Kirche das Dilemma innewohnt, Ausdruck fortgesetzter Kirchenspaltung zu sein, mĂĽssen wir alles dafĂĽr tun, zu einer Einheit mit unserer groĂźen römisch-katholischen Schwesterkirche zu kommen. Wir mĂĽssten im Grunde sofort alles das umsetzen, was die römisch-katholische – alt-katholische Dialogkommission beschlossen hat, jedenfalls sofern es in unserer Macht steht. Wir mĂĽssten den Ehrenprimat des Papstes ernst nehmen und ihn in die Intercessiones des Hochgebetes aufnehmen, wir mĂĽssten aufhören, der römischen Kirche mit dem erhobenen Zeigefinger Ratschläge zu erteilen, wir mĂĽssten uns gegen antirömische Reflexe im alt-katholischen Umfeld wenden – und wo es geht die Einheit stärken.
Weil ich die Spaltung der Kirche für ein Problem halte und weil die Einheit der Christen meiner Meinung nach eines der obersten Gebote unserer Zeit ist, deshalb kann ich nicht vorbehaltlos jedem Übertritt zustimmen. Ich wünsche mir indes, dass alle Katholiken eines nicht so fernen Tages in gegenseitigem Einverständnis – ganz offiziell – wieder gemeinsam an Seinen Tisch treten können. Und das die Frage eines Übertritts dann einfach nicht mehr wichtig ist.

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