Afrikanische Einheit

Armselige provisorische Hütten aus Müll. Flüchtlingscamp in der Wüste

Vorgestern Abend musste ich noch zu später Stunde arbeiten. Im Hintergrund lief Musik von Salif Keita. Keita ist ein Musiker aus Nigeria, der im Jahr 1949 in Mali mit dem sogenannten Albinismus, einer Pigmentstörung der Haut, zur Welt kam. Albinismus gilt in der Herkunftsgesellschaft Keitas als ein Unglückszeichen. Auch er selbst hatte unter diesem Aberglauben zu leiden. Dass er trotzdem den Aufstieg zu einem international anerkannten Künstler geschafft hat, grenzt ein Wunder.

Irgendwann fiel mir bei beim Hören seiner Musik eine Auseinandersetzung ein, die ich im Sommer 2010 mit meinem Bruder geführt habe. Es ging dabei um die Fußballweltmeisterschaft, die gerade in Südafrika stattfand – und in diesem Zusammenhang um die Zustände auf dem afrikanischen Kontinent so ganz allgemein. Mein Bruder war zu dieser Zeit in Südafrika vor Ort und probte mit einigen südafrikanischen Jugendlichen eine Theaterperformance, die teilweise auch vor den Fußballstadien aufgeführt wurde, in denen die Meisterschaftsspiele stattfanden.

Unter den Afrikanern herrschte eine ziemliche Euphorie, denn die eigene Mannschaft konnte sich eine ganze Weile tapfer gegen die Favoriten behaupten. Rund um die Fußballstadien entdeckten die Afrikaner plötzlich ihre Einheit wieder, die sie in ihre Bafana bafana („unsere Jungs“) genannten Kicker hineinprojizierten. Die also hatten auf dem grünen Rasen stellvertretend die Ehre Afrikas zu verteidigen, während sich die verfeindeten Clans und ethischen Gruppen in anderen afrikanischen Ländern weiter abschlachteten.
Mein Bruder ließ sich von diesem Gemeinsinn stiftenden medial inszenierten Großereignis tief beeindrucken und kam bei jeder E-Mail, die er uns in die Heimat schickte, mehr ins Schwärmen. Ich war relativ entsetzt von diesem (völlig unüblichen) plötzlichen Einbruch seiner Urteilsfähigkeit.

Nur weil anlässlich eines medial inszenierten Großereignisses ein gewisses Solidaritätsgefühl zwischen Menschen schwarzer Hautfarbe verschiedener Nationen Afrikas entsteht, gibt es in der sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit dort noch lange keine afrikanische Einheit, schrieb ich zurück: Was für ein Afrika soll denn da überhaupt gemeint sein. Schließt es den Norden ein, dessen muslimische Bevölkerung seit Jahrhunderten die Menschen im Inneren des Kontinents als Sklaven ausbeutet? Wo, wie in Darfur, hellhäutige Muslime dunkelhäutige Muslime anderer ethischer Gruppenzugehörigkeit abschlachten. Oder wo hellhäutige Muslime im nördlichen Teil sich auf die dunkelhäutigen Christen im Süden stürzen? (Inzwischen, nachdem sie ihre „nationale Unabhängigkeit errungen haben, schlachten sich die sogenannten Christen im Süden des Sudans auch untereinander ab.) Oder Somalia, wo sich die Angehörigen Hunderter verschiedener Clans gegenseitig massakrieren? Ruanda etwa oder Burundi, wo vor noch nicht allzu langer Zeit ein Völkermord monströsen Ausmaßes stattgefunden hat und sich die verschiedenen Bevölkerungsgruppen weiterhin feindselig und ängstlich belauern? Kongo, wo die verschieden ethnischen Gruppen – aufgehetzt von blutrünstigen Warlords –, sich gegenseitig massakrieren, um Zugang zu den Rohstoffvorkommen des Landes zu erhalten. Nigeria, oder jetzt auch die Zentralafrikanische Republik, wo Moslems und vermeintliche Christen mordend und brandschatzend durch die Wohnviertel der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe ziehen? Und das sind nur die populärsten Beispiele.
Es wird so gut wie kein einziges Land geben, im dem auch nur im Inneren so etwas wie eine Einheit besteht. Afrikanische Einheit? Nicht mal ein Mythos. Ein Witz. Afrika – um es mal etwas drastisch auszudrücken – ist am (…), oder sagen wir es vornehmer, ist eine einzige Katastrophe! Gestern und heute ausgeplündert von Kolonialisten verschiedener Couleur. Gegeneinander aufgehetzt von deren antikommunistischen und staatssozialistischen Erben, die erfolgreich auch noch jede emanzipatorische Regung im Keim erstickt haben. Die letzten Flämmchen einer gerechteren sozialen Entwicklung ausgepustet vom IWF und dessen neoliberaler Politik unter seinem Präsidenten Köhler und Kameraden. Wirtschaftlich abgewürgt durch Importbeschränkungen, Terms of Trade und Handelsbörsen.

Aber auch ausgeplündert von den heimischen Stammesfürsten und ethnischen Eliten, die sich ans Kapital verkauft und um ihres persönlichen Reichtum willens ihre angeblichen Landsleute auf das brutalste ausgepresst, gefoltert und gemordet haben und das immer noch tun. Zerrissen auch von den eigenen tief verwurzelten Feindseligkeiten zwischen den Ethnien, zerfressen von Aberglauben, mörderischen Kulten und Kannibalismus.

Afrikanische Einheit? Ein Scherz, über den man nicht lachen kann. Gegen das, was auch nur ein paar hundert Kilometer weiter nördlich passiert, ist Südafrika mit seinen rauchenden Slums, ärmlichen Hütten und der immer brutaler werdenden Massenkriminalität noch die Insel der Glücklichen.

Die katastrophalen Zustände, die in den meisten Teilen Afrikas herrschen, mittelalterlich zu nennen, täte dem europäischen Mittelalter Unrecht. Afrika ist eine groteske Karikatur der Moderne, die diesem Kontinent übergestülpt wurde, ohne das er auch nur im mindesten sozial und kulturell darauf vorbereitet gewesen wäre. Man hat versucht, aus den von Stammesdünkel zerfressenen und bis ins Mark verfeindeten Gemeinschaften Nationen zu konstruieren. Das ging nur solange gut, wie die westlichen Mächte mit dem Finger am Abzug darüber wachten, dass die Stammeskrieger nicht über einander herfielen. In Feindschaft gegen ihre Kolonialherren mag hier und da vielleicht wirklich so etwas wie eine Einheit zwischen den Stämmen entstanden sein, die aber sofort wieder zerfiel, als die Kolonialisten abzogen. Seit dieser Zeit bekämpfen sich die künstlich zu Nationen zusammen geschusterten tribalistischen Gemeinschaften unter dem Vorzeichen von nationalem Befreiungskampf, Sozialismus hier, parlamentarische Demokratie da, bis aufs Messer. Seit die ideologischen Systeme ihre Strahlkraft verloren haben wird deutlich, dass es im Grunde immer nur um die Usurpation von Ressourcen für die eigenen Stammesgenossen und zur Aufrechterhaltung zutiefst korrupter und nepotistischer Strukturen ging und geht. Afrika hat sich an der Moderne verschluckt und hört nicht auf, daran zu würgen. Bis dieser verlorene Kontinent vielleicht einen Ausweg aus dem Elend findet, werden wahrscheinlich noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte vergehen. Und bis dahin wird jeder Afrikaner (oder doch sehr sehr viele), der dazu in der Lage ist und die Möglichkeit hat, versuchen, aus dieser riesigen Afrika genannten No-Go-Area herauszukommen, dorthin, wo es sich besser und einfacher (über)leben lässt. Nach Europa zum Beispiel. Wir würden es genauso machen.

Allein das mag irgendwann die europäischen Mächte dazu veranlassen, etwas zu unternehmen. Fragt sich nur: was?

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